Erst durch die Erlangung der Rechtsfähigkeit können Gesellschaften als Träger von
Rechten und Pflichten agieren. Zuvor bestehen demnach auch die dargestellten europäischen Gesellschaften nicht als juristische Personen und besitzen weder die jeweils vorgesehene Eigenschaft der Haftungsbeschränkung noch die Fähigkeit vor Gericht zu klagen oder verklagt zu werden (vgl. Fn. 30). Zur Erlangung der Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft mit ausländischer Rechtsform müssen grundsätzlich zwei Voraussetzungen erfüllt sein: - Die Gesellschaft muss im Zuzugs-Staat Rechtsfähigkeit erlangen. Die Gesellschaft muss dort also entweder nach dem Recht des Gründungsstaates anerkannt werden oder ihr muss die Rechtsfähigkeit einer vergleichbaren inländischen Rechtsform gewährt werden.
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Der Gründungsstaat muss den Wegzug der Gesellschaft zulassen. Nach Errichtung einer Zweigniederlassung im Ausland und einer möglichen Verlagerung der hauptsächlichen Geschäftstätigkeit (bzw. des Verwaltungssitzes) dorthin, muss die Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungsstaates Rechtsfähigkeit behalten.
Bereits an der ersten Voraussetzung mangelte es ausländischen Rechtsformen noch bis vor kurzem, denn eine Rechtsfähigkeit wurde ihnen beim Zuzug in den
meisten Ländern grundsätzlich nicht zugestanden. Die rechtskräftige Gründung der jeweiligen Gesellschaften in ihrem Gründungsstaat wurde im Ausland nicht akzeptiert, da i. d. R. die dort geltenden Gründungsvorschriften nicht erfüllt wurden. Eine ausländische Gesellschaft, die also in ihrem Gründungsstaat ( z. B. Großbritannien) als Gesellschaft mit beschränkter Haftung (z. B. als Ltd) rechtskräftig gegründet wurde und dort als juristische Person auftreten durfte, wurde an ihrem ausländischen
Sitz (z. B. Deutschland) nicht als solche behandelt. Demnach konnte sie dort auch weder vor Gericht als juristische Person klagen oder verklagt werden, noch sich auf ihre im Gründungsstaat geltende Haftungsbeschränkung berufen. Eine deutliche Liberalisierung dieser sog. „Sitztheorie“ erfolgte jedoch 1999, als der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Sache „Centros Ltd“ entschied, dass die Verweigerung der Eintragung der Zweigniederlassung
einer Gesellschaft, die in einem anderen Mitgliedsstaat – auch wenn sie dort keine Geschäftstätigkeit (mehr) entfaltet – ihren Sitz hat und dort rechtmäßig errichtet wurde, gegen die Artikel 52 und 58 des EG-Vertrages verstößt. So entschied 2002 dann auch der BGH, dass ausländische Gesellschaften mit Zuzug dem deutschen Recht unterliegen, jedoch je nach Gesellschafterbestand und Geschäftsbetrieb als entsprechende deutsche Personengesellschaft (OHG, GbR oder Einzelunternehmen) anzusehen seien. Ausländische Gesellschaften waren demnach rechts- und prozessfähig, aber eine Rechtsfähigkeit als Kapitalgesellschaft – und
somit auch eine nach den Vorschriften ihres Gründungsstaates geltende Haftungsbeschränkung – wurde ihnen weiterhin abgesprochen, da sie nicht die deutschen Gründungsvorschriften (z. B. in Bezug auf die gesetzliche Mindestkapitalausstattung) erfüllten. Diese sog. „materiellrechtliche Erweiterung der Sitztheorie“ hat der EuGH jedoch durch seine Entscheidungen in den Sachen „Überseering“ und „Inspire Art“ in den Jahren 2002 und 2003 eindeutig verworfen.
So verwies der EuGH in seinem Leitsatz zum Urteil in der Sache „Überseering“ darauf, dass der Zuzugs-Staat vielmehr nach den Artikeln 43 und 48 EG dazu verpflichtet sei, „die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten, die diese Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungsstaats besitzt. Eine in einem EU-Mitgliedsstaat rechtskräftig gegründete und bestehende Gesellschaft besitzt demnach in allen anderen
Mitgliedsstaaten dieselben Rechte, die sie in ihrem Gründungsstaat besitzt. Für den Fall der hier betrachteten europäischen Gesellschaftsformen bedeutet dies, dass sowohl ihre Rechtsfähigkeit als juristische Person als auch ihre Haftungsbeschränkung anzuerkennen sind. In der Urteilsbegründung in der Sache „Inspire Art“ wird der EuGH dann noch deutlicher und bestimmt, dass an die grundsätzliche Bestimmung zur Anerkennung von
Zweigniederlassungen einer in einem anderen EU-Mitgliedsstaat gegründeten Gesellschaft auch keine Sonderanknüpfungen vorgenommen werden dürfen, die die Niederlassungsfreiheit einer Gesellschaft behindern oder beschränken. Ebenso wie im „Centros“-Urteil verweist der EuGH darauf, dass Ausnahmen nach dem sog. „Vier-Kriterien-Test“ (auch: Gebhard-Formel“) nur zulässig sind, wenn die Einschränkungen - in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden,
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aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind,
- zur Erreichung des Ziels geeignet sind und
- nicht über das Erforderliche hinausgehen.
Diese Voraussetzungen sieht der EuGH jedoch für Zusätze bei der Eintragung (wie z. B. „formal ausländische Gesellschaft“) oder spezielle Auflagen (wie z. B. bezüglich des Mindeststammkapitals) nicht erfüllt und hält daher
derartige Bestimmungen für unzulässig. Dies gelte insbesondere auch für im Ausland gegründete Gesellschaften, deren Tätigkeit ausschließlich oder hauptsächlich im Zuzugs-Staat (z. B. durch Errichtung einer Zweigniederlassung) stattfinden soll (sog. „Scheinauslandsgesellschaften“). Auch wenn diese Art der Gründung allein darauf ziele, strengere gesellschaftsrechtliche Vorschriften eines Mitgliedsstaates zu umgehen, stelle dies kein missbräuchliches oder
betrügerisches Verhalten dar, sondern sei vielmehr erklärtes Ziel der im EG-Vertrag garantierten Niederlassungsfreiheit im Binnenmarkt. Nicht verändert hat sich die Rechtslage hingegen in Bezug auf die zweite Voraussetzung, die eine ausländische Gesellschaft zur Erlangung der Rechtsfähigkeit erfüllen muss. Die Urteile „Überseering“ und „Inspire Art“ beziehen sich ausdrücklich nur auf den Zuzug von Gesellschaften. Bezüglich des Wegzugs einer Gesellschaft
verweist der EuGH auf die Gültigkeit des „Daily Mail“-Urteils von 1988, wonach es den Mitgliedsstaaten überlassen ist, ihren eigenen Gesellschaftsformen Beschränkungen aufzuerlegen. Wegzugsbeschränkungen, wie z. B. bei der deutschen Rechtsprechung eine Verlagerung ihres Verwaltungssitzes ins Ausland automatisch zu einem Erlöschen der Gesellschaft führt, bleiben also zulässig. Eine ebenso strikte Beschränkung existiert auch nach österreichischem Recht.
Ob, bzw. wie lange derartige Wegzugsbeschränkungen nach „Überseering“ jedoch noch Bestand haben werden, bleibt abzuwarten. Alle anderen europäischen Staaten haben solche Beschränkungen jedenfalls längst aufgehoben. So hat z. B. Großbritannien eine entsprechende Genehmigungspflicht direkt nach dem „Daily Mail“-Urteil, dem diese Beschränkung noch zugrunde lag, aufgehoben. Andere Staaten, wie z. B. die Niederlande, kannten entsprechende Beschränkungen ohnehin nie.
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass einem „Import“ von europäischen Rechtsformen (mit Ausnahme der österreichischen GmbH) nach Deutschland in Bezug auf deren Rechtsfähigkeit nach neuer Rechtsprechung wohl nichts mehr entgegensteht, solange die Gesellschaft im Gründungsstaat rechtskräftig gegründet wurde. Ein entsprechender „Export“ deutscher Gesellschaftsformen scheitert hingegen (noch?) an der bestehenden Wegzugsbeschränkung. |