Die
Urteile „Centros“, „Überseering“ und „Inspire Art“ mögen zwar zur Klärung bezüglich der Rechtsfähigkeit ausländischer Gesellschaften beigetragen haben, in Bezug auf das europäische Gesellschaftskollisionsrecht entstehen durch sie jedoch viele Fragen, in deren Mittelpunkt Überlegungen zur Anwendbarkeit deutscher Haftungsgrundsätze stehen. In Kapitel 2.2. wurden diese bereits für die verschiedenen Phasen der Gründung, Betriebsführung und Krise der GmbH dargestellt und
Abbildung 6 fasst sie in einer Übersicht zusammen. Zur Überprüfung, welche Tatbestände davon bei ausländischen Kapitalgesellschaften mit Sitz in Deutschland nach deutschem und welche nach dem Recht des Gründungsstaates zu beurteilen sind, erscheint jedoch eine Unterscheidung zwischen Tatbeständen des Gesellschafts-, Insolvenz-, Delikts- und Vertragsrechts sinnvoll. Tatbestände des Gesellschaftsrechts sind nach den o. g.
Urteilen nun zweifelsfrei dem Recht des Gründungsstaates der Gesellschaft zuzuordnen. Fraglich bleibt jedoch, welche Tatbestände und Pflichten dies im Einzelnen sind. Nach herrschender Meinung umfasst das Gesellschaftsrecht zumindest alles, was mit der Entstehung, der Verfassung, dem Erlöschen oder der Umwandlung einer Gesellschaft zusammenhängt. Während demnach die Kapitalaufbringung sowohl in Bezug auf die Höhe des aufzubringenden Kapitals als auch in Bezug auf die
Haftung bei Nichterbringung nach allgemeiner Auffassung nach dem Recht des Gründungsstaates zu erfolgen hat, ist dies für die Kapitalerhaltungspflicht umstritten. Die herrschende Meinung versteht diese zwar ebenfalls als eine Bestimmung des Gesellschaftsrechts, jedoch erachten andere Teile der Rechtswissenschaft auch eine Rechtfertigung für die damit verbundene Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nach dem „Vier-Kriterien-Test“ für möglich und empfehlen eine Sonderanknüpfung. Eindeutig nach deutschem Recht sind hingegen Tatbestände des Insolvenzrechts zu beurteilen. Nach Art. 3 Abs. 1 S. 1 der Europäischen Insolvenzverordnung (EuInsVO) sind für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens die Gerichte des Mitgliedsstaates zuständig, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Diese sind bei Gesellschaften und juristischen Personen zwar grundsätzlich am Satzungssitz zu vermuten (Art. 3 Abs. 2
S. 2 EuInsVO), liegen jedoch bei dem hier betrachteten Fall der Nutzung einer ausländischen Rechtsform für eine Existenzgründung in Deutschland (sog. „Scheinauslandsgesellschaft“) mit Sicherheit in Deutschland. Fraglich bleibt jedoch auch hier, welche Tatbestände und Pflichten dem Insolvenzrecht zuzurechnen sind. Während die herrschende Meinung z. B. die Insolvenzantragspflicht und die Insolvenzverschleppungshaftung sowohl aufgrund ihrer
inhaltlichen Nähe zum Insolvenz-recht als auch aufgrund der Vereinbarkeit mit dem „Vier-Kriterien-Test“ nach deutschem Recht beurteilen will, halten andere diese aufgrund der Verwurzelung der Insolvenzantragspflicht im deutschen Gesellschaftsrecht (§ 64 Abs. 2 GmbHG) für unzulässig. Eindeutiger gestaltet sich hingegen die Zuordnung der, oft mit der Insolvenzverschleppung einhergehenden, Haftung wegen sittenwidriger Schädigung. Diese ist nach § 826 BGB i.V.m. § 823 BGB ganz eindeutig dem Deliktsrecht zuzurechnen. Ebenso wie beim Vertragsrecht kommt dabei nach Art. 40 EGBGB deutsches Recht zur Anwendung, wenn der Begehungsort im Inland liegt oder der schädigende Erfolg im Inland eintrat und der
Gläubiger die Anwendung deutschen Rechts wünscht. Neben der sittenwidrigen Schädigung sind somit auch alle weiteren deliktischen Tatbestände sowie die dem Vertragsrecht zuzuordnende Rechtsscheinhaftung und die Haftung wegen Verschulden bei Vertragsabschluß (c.i.c) bei ausländischen Kapitalgesellschaften mit Sitz und Geschäftstätigkeit in Deutschland nach allgemeiner Auffassung nach deutschem Recht zu beurteilen. Der wohl umstrittenste Komplex von
Haftungstatbeständen ist die Durchgriffshaftung i. e. S. Neben den Haftungsgefahren wegen Bestandsgefährdung und materieller Unterkapitalisierung der Gesellschaft ist dem auch die Haftung bei Vermögensvermischung zuzurechnen. Die herrschende Meinung befürwortet zwar eine Beurteilung dieser Haftungstatbestände nach deutschem Recht, jedoch teilweise mit unterschiedlichen Ansätzen. Während einige eine deliktische, bzw. insolvenzrechtliche Qualifizierung befürworten, ist die
Mehrheit der Meinung, dass diese Tatbestände als Sonderanknüpfung eine zulässige Beschränkung der Niederlassungspflicht nach der „Vier-Kriterien-Regel“ darstellen. Demgegenüber sehen andere in den Bestimmungen durchaus eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nach der „Vier-Kriterien-Regel“ und verneinen dementsprechend eine Anwendbarkeit deutschen Rechts für diese Tatbestände. Die Ausführungen zu den einzelnen Pflichten und
Haftungstatbeständen sowie die Übersicht in Abbildung 7 haben gezeigt, dass nach den Urteilen „Centros“, „Überseering“ und Inspire Art“ eine lebhafte Diskussion über die Zuordnung einzelner Aspekte, aber auch über die Bedeutung dieser Rechtsentwicklung im Allgemeinen, eingesetzt hat. So sehen einige in den Urteilen die völlige Aufgabe der bisher in Deutschland nach herrschender Meinung dominierenden „Sitztheorie“ und wollen im Gegenzug eine
„Gründungstheorie“ etablieren, d. h. bis auf die Ausnahmen der unmittelbaren Tatbestände des Insolvenz-, Delikts- und Vertragsrechts soll das Recht des Gründungsstaates gelten. Die Verfechter dieser Ansicht sehen die Urteile als eine Öffnung („Deregulierung“) des Gesellschaftsrechts der europäischen Mitgliedsstaaten und plädieren für einen Wettbewerb der verschiedenen Gesellschaftsformen. Demgegenüber stehen diejenigen Stimmen, die für eine
europarechtlich konforme Beibehaltung der „Sitztheorie“ plädieren. Mit teilweise unterschiedlichen Ansätzen bemühen sich diese um eine Aufrechterhaltung eines Mindestschutzes für Gläubiger nach deutschem Recht. Aus Sicht des Existenzgründers ist aus Vorsichtsgründen eher letzterer Auffassung zu folgen und demnach damit zu rechnen, dass auch bei der Verwendung einer ausländischen Gesellschaft mit beschränkter Haftung für
eine Existenzgründung in Deutschland grundsätzlich deutsche Haftungstatbestände zur Anwendung kommen können. Einzelne Aspekte sind jedoch (auch?) nach dem Recht des Gründungsstaates zu beurteilen, wie z. B. in Bezug auf die Kapitalaufbringung. Dies führt zu zwei ganz erheblichen Risiken: - Risiko der Rechtsunsicherheit: Deutschen Gerichten ist wohl kaum zuzumuten, kundig im Gesellschaftsrecht aller 15 (neuerdings: 25) EU-Mitgliedsstaaten zu sein und dieses ggf. sogar
mittels Rechtsvergleichs anzuwenden. Andererseits wird z. B. ein britisches Gericht wohl kaum innerhalb eines ansonsten unbekannten deutschen Insolvenzverfahrens über einzelne Aspekte der Durchgriffshaftung entscheiden können.
- Beratungsproblematik: Angesichts nicht zu vernachlässigender Haftungsrisiken für deutsche Rechts- und Steuerberater bei unrichtiger oder unvollständiger Beratung wird es schwierig sein, eine entsprechende Beratung in Deutschland zu
erhalten (insbesondere für weniger populäre ausländische Rechtsformen wie die finnische Oy oder die griechische EPE). Ausländische Berater im entsprechenden Gründungsstaat werden wiederum i. d. R. keine Beratung zu deutschem Recht anbieten. Dass dieses jedoch wesentlich sein kann, wurde oben bereits ausführlich erörtert.
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